O-SHOGATSU – das japanische Neujahrsfest

 

17 Mönche des ChionIn-Tempels "schlagen" mit 108 Schlägen das neue Jahr ein

Feuerschnüre und Glockenschlagen

Um es gebührend zu sagen:  O-SHOGATSU ist im religiösen wie im profanen Sinn mit Abstand das bedeutendste Fest Japans. Wenn am Silvesterabend alle Speisen für die nächsten Tage bereitet sind, und zwar vollzählig nach altem Brauch, wenn der Silvesterputz bis in die verstecktesten Ecken des Hauses abgeschlossen und das abendliche Bad besonders sorgfältig vollzogen ist –  denn in jedem Sinne REIN muss man das neue Jahr begrüßen –  dann beginnt die Wanderschaft zum Tempel oder zum Schrein, oder zu beidem, da gibt es in Japan weder Konkurrenzdenken noch Berührungsängste, hin zum Gebet, zum Holen des heiligen Herdfeuers im Schrein an langen Schnüren, gedacht für die erste Mahlzeit des neuen Jahres (damit das Feuer und somit auch das Essen im neuen Jahr nie „ausgeht“),

Schlemmen bei 0 Grad rund um den Yasaka-Schrein in Kyoto

zum Amüsement, wie Naschen oder Schlemmen an zahllosen Ständen, Kaufen von  – gesegneten – Talismanen und Jahresgebinden, in diesem Jahr, dem „Jahr des Hasen“ nichts ohne HASEN – und als Höhepunkt zum Lauschen der Tempelglocken um Mitternacht, exakt 108 Schläge zur Austreibung der 108 Verhaftungen, Leidenschaften oder „Vergehen“ des letzten Jahres.

Nun fragen sich besonders Interessierte, vor allem Westler, um welche 108 „Vergehen“ es sich handeln mag. Diese Frage zu beantworten ist schwierig – muzukashii, ne! Vielleicht gibt es alte Tempelschriften, in denen sie aufgelistet sind, aber die Zeiten haben sich geändert. Einige „Vergehen“ haben sich buchstäblich überlebt, neue sind ins Blickfeld geraten. Es gibt jedenfalls zahllose. Hier eine kleine Auswahl:  Knauserigkeit, Ehrgeiz, Groll, Schamlosigkeit, Wollust, Verschwendungssucht, Besserwisserei, Heimtücke, Alkoholismus …  Genau genommen – man weiß es nicht! – Was die Tempelglocken betrifft, so handelt es sich nicht um westliches Glockengeläut à la „Die Glocken des Kölner Doms läuten, einschließlich des Dicken Pitters, 15 Minuten lang das Neue Jahr ein“.  Hier werden große, in einem offenen, pavillonartigen Gebäude sehr dekorativ aufgehängte Glocken mit einem an Seilen befestigten Schlegel tatsächlich ANGESCHLAGEN, in der Regel von Mönchen des entsprechenden Tempels, in einigen Tempeln ist es inzwischen auch Besuchern erlaubt, sich einzubringen in diese Zeremonie, die etwa 2 Stunden währt. (1999 hatten wir uns im Anschluss an die Zeremonie im Chion-In-Tempel im kleineren Honen-In mit den Zahlen 93 und 94 ins  Jahrtausend geschlagen). – Die nächsten 3 Tage stehen im Zeichen von Schrein- und Tempelbesuchen, vorzugsweise in prächtigen Kimonos, ein Augenschmaus für Fotojäger.

Das Fest, das ansonsten vor allem ein Familienfest ist, dauert mindestens 3 Tage, das bedeutet Urlaub für fast Jedermann.  Für Nichtjapaner können diese Tage, sobald  der erste Hunger nach Exotik gestillt ist, sehr lang sein. In diesen Tagen sind japanische Städte „verriegelte“ Städte, denn nahezu alle Geschäfte, dazu auch Cafés und Restaurants, sind, sofern sie nicht vom Besucherstrom zu berühmten Tempeln und Schreinen profitieren, geschlossen. Allerdings haben sich inzwischen auch in diesem Fall die „Sitten“ geändert. Am dritten Tag quoll die Innenstadt wieder über von Passanten und vor allem Einkäufern, die in den geöffneten großen Geschäften und Kaufhäusern ihr Geschenkgeld umsetzen und preiswerte Neujahrsangebote erstehen wollten.

O-SHOGATSU 2010/11 – Silvester in WEIß

Vor dem Gebet: Hand- und Mundreinigung im Schrein (Unterweisung von Mika)

Mika und Shinji bei uns zu "Kaffee und Kuchen"

Wann, so frage ich mich, begann eigentlich für uns O-SHOGATSU? Mit der Ankunft unseres Sohnes am 28.12. und dem damit verbundenen Besuch von unseren Tokyo-Freunden Mika und Shinji vom 29. – 30. Dezember mit Spaziergängen durch Kyoto, mit ihrem Besuch in unserer altjapanischen „Hütte“,  die Mika begeistert nostalgisch nannte,  mit gemeinsamem Bogenschießen in

Man wird alt wie ...: Bogenschießen üben, hier zusammen mit Shinji

einem kleinen Dojo, mit fröhlichen, zuweilen auch feucht-fröhlichen Restaurantbesuchen (Bier für R. und S. sowie eine Flasche Sake für „Greta-san“, die später von anderen leer getrunken wurde), mit der Freundschaftszigarette von Daniel und Shinji, der seit einer schweren Lungenentzündung vor 6 Jahren nicht mehr raucht? Oder begann das Fest doch erst am Morgen des 31.12. nach Öffnen der Küchentür und unserem vor Verblüffung laut heraus posaunten, wieder und wieder variierten  OH-OH-OH-NEIN und OH-OH-OH-JA Ausrufen? Ich hatte an einige Freunde geschrieben, Schnee sei uns nicht erwünscht, höchstens  für ein paar Stunden, um Tempel, Schreine und Gärten verzaubert zu sehen. Und da war er, wirbelte in großen dichten Flocken ums Haus, bedeckte  in dicken Lagen Straßen, Büsche, Bäume, Brüstungen. Eine Plage für Europäer in diesem Jahr, für Kyoto eine Sensation. Und er machte dem Namen unseres Hauses „HAKU GIN SO – SCHNEEPALAST “ alle Ehre.

Der Eingang zu "unserem" Ginkakuji-Tempel vor den Ost-Bergen Kyotos

Schnee fällt in Kyoto nur wenige Male und eher spärlich im Winter. Man hat Glück, wenn er ein paar Stunden liegen bleibt. Jetzt aber fiel er in „Massen“, so wie alle 10 Jahre vielleicht einmal, sagte uns ein Taxifahrer (schlitternd ohne Winterreifen!). Und das zu Neujahr  – gab’s das schon einmal, 25 – 30 cm hoch liegender und, wie es aussah,  liegenbleibender Schnee?

Weil wir zu später Nachtstunde in die Stadt zum berühmten Yasakaschrein im Gion-Geisha –Viertel fahren und weiter zum Chion-In-Tempel mit der größten Glocke Japans  hinübergehen wollten, hatten wir an einen gemütlichen Tag zu Hause gedacht. Doch jetzt hieß es: den Kaffee hinunterschütten, sich einmummeln und los! Durch den knirschenden, in den Seitenstraßen fast noch unberührten Schnee, stapften wir zu unserem „Haustempel“  Ginkakuji.

Pavillon des Ginkakuji im Schneegestöber des Sylvestermorgens

Der Weg dorthin  war tatsächlich verzaubert, exotisch verzaubert, allein schon  wegen der hiesigen Flora, dem Bambus und den in Form von vielen kleinen übereinander ragenden Schirmchen geschnittenen Pinien. Und dann das Non plus Ultra: Der Tempel selbst vor der Kulisse des Bergzugs Higashiyama.  Natürlich: Allein waren wir nicht!

Und noch weniger allein am Abend im Schrein, wo sich im inzwischen zertrampelten Schnee und Matsch Buden an Buden drängten und Betende mit einer Geldspende vor dem Hauptgebäude.

Holen des heiligen Feuers im Yasaka-Schrein am Sylvesterabend

Der Tempelkomplex hallte wider von  Münzenklingen (in die Opferkästen geworfen), vom  Klatschen in die Hände beim Gebet: hört mich an, Ihr Götter! von Andenken- und Leckerbissen-Ausrufern.Im akrobatischen Schlängeln durch die Menge musste man hier und da Feuerschleudern ausweichen. An langen Schnüren, mit denen man sich das Feuer für die erste Mahlzeit des neuen Jahres geholt hatte,

"Feuerschnur"-Verkäufer im Yasaka-Schrein

glühten die Spitzen und damit sie nicht verglühen, müssen die Schnüre geschwungen werden. Insgesamt: Eine Atmosphäre von Ernsthaftigkeit, Heiterkeit und Feierlaune zugleich.

Das Hauptereignis jedoch war das Joya-no-Kane, das Glockenschlagen im nahegelegenen Chion-In-Tempel. Der Weg dorthin durch den Maruyama-Park war glitschig. Wir suchten noch nach dem Aufstieg zur Glocke, die sich auf einem Hügel befindet, ein wenig geblendet durch die Lichter des Vorplatzes, dann, auf die vielen Ordner aufmerksam geworden,  entdeckten wir sie: die Menschenschlange  – genau genommen deren Schwanz – ausladend breit, aber geordnet schob sie sich, wie wir nach und nach erfahren mussten, in vielen Kehren z.T. über vom Schnee geräumte Stufen bergwärts.

Wir sind diesen Weg vor 11 Jahren schon einmal gegangen, begleitet von anderen Besuchern, allerdings in lichten Reihen. Jetzt fragten wir uns: Sind die Japaner in der Zwischenzeit frommer geworden? Besinnen sie sich verstärkt auf ihr altes Brauchtum im Sinne von „zurück zu den Wurzeln“? Oder handelt es sich ganz einfach, wie bei uns im Westen, um die Teilnahme an einem Event? Dem Ansturm gerecht zu werden, sah der Plan so aus: Aufstieg zur Glocke, Vorbeidefilieren, ein paar Minuten den Klängen lauschen, fotografieren und weitergehen.

Die Mönche beim Anschlagen der Glocke des Chion-In

Die Glocke ist 3,3 Meter hoch und wiegt 70 Tonnen. Sie wird im Teamwork von 17 Mönchen mit einem baumstammlangen und baumstammstarken Schlegel oder besser:  Balken, um den lange Stricke gewickelt sind, in regelmäßigen Abständen von außen angeschlagen. Die Pausen zwischen den Schlägen sind zumindest so lang, dass jeder Glockenklang „für sich“ steht. Mit Gesängen zunächst und unter vielfachem, anfangs langsamen,

Schlegel und "Auge" einer Glocke

schließlich rascherem Wiegen des Balkens, unter Anfeuerungen, die im Ruf  „ee hitotsu soree“  enden, treffen sie präzise das GLOCKENAUGE. Der Ton ist dunkel, tragend, körpererschütternd und er klingt lange nach, hallt durch den Park (und durch den Äther des NHK),  in diesem Jahr allerdings nur mäßig, vom ringsum liegenden Schnee gedämpft.

Dort oben zu stehen, die festlich-fröhliche Stimmung zu spüren, das Zeremoniell des Singens, Rufens, des Balkenwiegens, des Gespanntseins auf den Schlag, der je nach Kraftaufwand und Koordination anders ausfällt, dem dunklen nachvibrierenden Ton zu lauschen, wieder und wieder, am Ende, nach einem Augenblick der Stille und des Innehaltens der Glockenschläger ins Neue Jahr hinein – das ist den Aufstieg sogar im Pulk der Massen mehr als wert. Wir hatten ein Eckchen gefunden, in dem man uns verweilen ließ, beinahe 45 Minuten lang, wir waren glücklich, auch wenn man durch den von Menschen umringten Pavillon hindurch nicht mehr sah als die Glocke, den Schlegel und manchmal die kahlgeschorenen  Köpfe der Mönche. Einige Besucher wünschten uns ein Frohes Neues Jahr, sogar der „Glockenwärter“, der uns, den ungehorsam Verweilenden, hin und wieder scheele Blicke zugeworfen hatte.  – Der Abstieg über  nicht von Schnee und Eis geräumte Wege war allerdings halsbrecherisch, zumindest für mich, da die Profilsohlen meiner Schuhe nicht für Ausflüge ins Eis gemacht war. Wir schafften es trotzdem unbeschadet, indem wir Um- und Abwege suchten. Einer führte sogar durch ein Bachbett, aber die Trittsteine und Daniels Feuerzeug machten die Überquerung möglich. Fazit: Gut gerutscht ins Neue Jahr.

Ausklang, Tag 1-3

Frauen mit Neujahrskimono vor "Horoskop-Gitter"

Da das Wetter eher trist war, der Boden in Tempeln und Schreinen voller Pfützen, fiel die berühmte Kimonoschau am Neujahrstag weitgehend aus. Wir kauften einige vom Schrein gesegnete Amulette, schauten den Horoskop-Käufern  und –Lesern zu, die, je nach Botschaft den Zettel glücklich einsteckten , oder –  wie es ebenfalls Brauch ist –   um ein dafür vorgesehenes Gitter wanden, ganz gleich, ob Glück oder Unglück prophezeit wurde: zum Ersten, um die

Kimono-Schöne am Yasaka-Schrein

Götter an ihre Glücksverheißungen zu ermahnen, zum Zweiten, um das angekündigte Unheil doch noch abzuwenden oder wenigstens zu mildern. In den nächsten Tagen besuchten wir noch einige andere Gebetsstätten, darunter unseren „Hausschrein“ Hachi-Jinja, wo jedem von uns für unsere Lob- und Dankzeremonie  in einem kleinen Schälchen ein Schluck weißer Sake gereicht wurde. Ansonsten  ließen wir es uns zu Hause wohl sein mit Essen, Lesen, Gesprächen, lauschten den Schnee- und Eislawinen, die dann und wann mit Wucht und Getöse vom Dach rutschten und das Haus erzittern ließen und  … nun ja, der Artikel für diesen Blog musste schließlich auch geschrieben werden.

Neujahrsgesteck an den Eingängen von Tempeln und Schreinen

Heian-Schrein im Schnee

Als wir nach einer langen Nacht (in einer Bar im Vergnügungsviertel) aufwachten, waren wir eingeschneit und trotz eines leichten Katers sofort hellwach, schaufelten den Weg zum Eingangstor frei, schossen Fotos, darunter eines mit einem tags zuvor gesteckten Ikebana im Schnee und  stürmten dann nach einem Kurzfrühstück mit dem Taxi zum Heian-Schrein. Die Sonne war inzwischen hervorgekommen und brannte bereits so stark, dass es heftig von den Dächern tropfte. Trotzdem –  wir waren begeistert und hoffen, dass die Aufnahmen vom großen Torii und den ausladenden roten Dächern im (restlichen) Schneeglitzern gut geworden sind.

Kyoto, 9. Februar 1968

Ausflug in den Schnee

Das  ganztägige Treffen mit Rüdigers 5-köpfiger Deutschgruppe  … endete spät abends im Maruyama-Park. Seit Stunden war Schnee gefallen. Unsere Freunde, mit denen wir bisher eher ernsthaft über Deutschland und Japan diskutiert hatten, waren plötzlich außer Rand und Band, lieferten sich Schneeballschlachten und produzierten – ein bisschen lyrischer – Schneestaub, indem sie weiche Schneebälle in die Bäume warfen. Ein malerisches Bild: der halberleuchtete Park mit den weißen, tief herabhängenden Zweigen der Kirschbäume, die Kiefern, die – von unten betrachtet – aussahen wie blütenbedeckte Kuppeldächer. Stimmungsvoll war der Gang durch den verschneiten Yasaka-Schrein mit den vielen leuchtenden Lampions und durch das Gion-Vergnügungsviertel. Ein kleiner Schrein an einer Straßenecke: Torii, Altar, ein wenig Gebüsch, eine Steinlaterne, alles bedeckt mit Schneehäubchen. – Das aufregendste Erlebnis des Tages: Der Beinahe-Unfall mit dem Taxi auf vereister Straße in der Nähe unseres Domizils. Der Wagen schlitterte plötzlich unaufhaltsam auf die andere Straßenseite, direkt auf ein rasch einherbrausendes Auto zu. Schreck!! Doch es ging gut – im letzten Moment!

Kyoto, 15. Februar 1968

Bambus im Winter, vornübergebeugt, dicht aneinandergedrängt die geschachtelten Stämme, stelzig-trocken – und fühlen sich doch gut an, Schmeichelholz, kühl und glatt. Bizarr in manchen Tempelgärten das Geäder der Baumwurzeln, bloßliegend, nur hier und da von Moos überwachsen. Blicke fangend.

Neujahr 1999/2000

Über gretagodberg2010

Ich bin Schriftstellerin und Reisende. Mein sogenantes zweites Heimatland ist Japan. Im meinen Artikeln möchte ich jenseits von purer Exotik das "ganzheitliche Leben" hinter dem sprichwörtlichen Bambusvorhang vermitteln, die Normalität der Menschen in ihrer Fremdartigkeit.
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