10 Jahre Fukushima – Brief an japanische Freunde
Liebe Freunde in Japan,
zehn Jahre ist es her, seit eine der schlimmsten Katastrophen der letzten Jahrhunderte über Euer Land – das wir auch ein bisschen als unsere zweite Heimat empfinden – urplötzlich hereingebrochen ist: Ein Erdbeben der Stärke 9,1 (das größte jemals gemessene Erdbeben in Japan), der unmittelbar darauf folgende Tsunami an der Sanriku-Fukushima-Küste mit Wellen, die an einigen Orten 30 oder gar 40 Meter erreichten, und die immer noch nicht behobene Beschädigung des Kernkraftwerkes Fukushima Daiichi. Ich bin sicher, Ihr erinnert Euch daran, dass wir trotz aller Warnungen von unseren Familien und Freunden hier in Deutschland, ja, selbst von Euch, ganz wie zuvor geplant nach Japan gereist sind, Anfang April 2011. Wir, die langjährigen Freunde aus Ost und West, sind uns begegnet wie gemeinsam Überlebende, freudig und traurig zugleich; beglückt über das Wiedersehen, bedrückt und fassungslos über das Ausmaß der Zerstörungen.
Es war eine sehr merkwürdige, eher untergründig angespannte Stimmung im Land. Einerseits Betrübnis vermischt mit Angst vor weiteren heftigen Beben, andererseits – ganz so als wäre nichts Gravierendes geschehen – Freude an der in diesem Katastrophenjahr besonders prachtvollen Kirschblüte. Zusammen mit einigen von Euch haben wir in Tempeln, Schreinen und Gärten das Kirschblütenschauen genossen, insbesondere im „Kirschgarten Kyoto“. Halb unbewusst, halb bewusst haben wir uns manchmal gewundert, dass Ihr und auch wir mit Euch diese Pracht tatsächlich genießen konnten. Wie mit einem Trostpflaster sanft betäubt, losgelöst und becirct von den vielstimmigen Ausrufen „kirei, kirei – wie schön, wie schön“ ringsum, war das dreifache Unglück für Augenblicke oder gar Stunden in weite Ferne gerückt. Hatte es überhaupt stattgefunden? Dieses schwer Begreifliche? Rund 20. 000 Tote, über 400.000 für immer oder vorübergehnd aus ihrer Heimat Vertriebene in Notunterkünften, zahllose Vermisste? Trotzdem – überall im Land wurden Kirschblütenfeste gefeiert, selbst im – erlaubten – Umfeld des schwer verwüsteten und radioaktiv verseuchten Küstengebietes. Als Symbol des Überlebens, der Unbeugsamkeit gegenüber den Naturgewalten?
Wie in jedem Jahr denken wir auch an diesem 11. März an Euch, an die Opfer, an Japan. Es hat in den 10 vergangenen Jahren viel Aufbauarbeit gegeben. Während unserer Fahrten durch das Katastrophengebiet innerhalb verschiedener Jahre konnten wir uns selbst davon überzeugen. Stellvertretend für viele andere kommt mir die Stadt Ishinomaki in den Sinn, 2013 eine Geisterstadt mit weitaus mehr Ruinen als halbwegs heil gebliebenen Häusern, die Geschäfte in den noch verbliebenen Gebäuden geschlossen. Kaum ein Mensch in den Straßen, durch die wir – über aufgerissenes oder hochgebuckeltes Pflaster- an einem heißen Tag mehr gestolpert als gegangen sind. 3000 Menschen, lasen wir in einem Infoblatt, waren durch den Tsunami umgekommen, 2500 vermisst.
2017, erneut in Ishinomaki, staunten wir über die vielen Neubauten und liebevoll instand gesetzten alten Häuser, die Betriebsamkeit in der wieder zu einer Einkaufsmeile zurückverwandelten Hauptstraße. Im Restaurant eines neu- oder wiedereröffneten Kaufhauses aßen wir in aller Gemütlichkeit und freundlichst bedient ein leckeres O-Teishoku mit Kaffee und Kuchen als Nachtisch. 80% der damals Geflüchteten seien zurückgekehrt, sagte uns ein Verkäufer in der kleinen Souvenirabteilung, und unser Manga-Museum ist auch wieder für Touristen geöffnet: Wir in Ishinomaki geben niemals auf! Es ist ein Durchhaltespruch, den eine Gruppe Überlebender bereits Wochen nach dem Tsunami auf eine Gedenktafel geschrieben und in der zerstörten Innenstadt aufgestellt hatte.
Liebe Feunde, wie immer fühlen wir uns verbunden mit Euch, nicht nur, aber vor allem an diesem besonderen Gedenktag. Wir wünschen von Herzen, dass sich eine solche Katastrophe, die nahe dran war, einen Teil Japans auszulöschen, nicht wiederholt. Es wäre schön, mit Euch in einem Schrein den diesjährigen Tag zu begehen, die Kamisama in ihrer göttlichen Macht um Beistand und Lebensglück zu bitten, aber die – weltumspannende – Pandemie, auch eine Katastrophe, lässt es nicht zu.
Wann werden wir Euch wiedersehen? Vielleicht im nächsten Jahr? Zur Kirschblütenzeit? Wäre es doch so!!! Gerne auch mit Maske, über die wir – Ihr erinnert euch – früher einmal ein bisschen milde gelächelt hatten, und die uns jetzt schützt. Ihr habt immer an ihren Schutz geglaubt.
Wir grüßen Euch mit einer Verbeugung, auch diejenigen, die sich längst an westliche Begrüßungs-Umarmungen und Wangenküsschen gewöhnt hatten. Bleibt gesund!
Eure
Greta und Rüdiger
P.S.: Mehr über unsere Erfahrungen während der Reise im Jahr 2013 durch das Katastrophengebiet findet Ihr unter den folgenden Links (Ausführliches über Ishinomaki in Link2):